Umweltrat stellt Hauptgutachten vor
© Sachverständigenrat für Umweltfragen
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) hat sein Hauptgutachten 2020 „Für eine entschlossene Umweltpolitik in Deutschland und Europa“ im Rahmen einer Videokonferenz der Bundesumweltministerin Svenja Schulze und der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Umweltrat zeigte in seinem Bericht Defizite unter anderem bei den Themen Wasser, Verkehrslärm, Gebäudesektor und umweltfreundliche Mobilität auf und forderte nachdrücklich ein Umsteuern.
Prof. Dr.-Ing. Lamia Messari-Becker, Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen ist seit 2016 Mitglied in dem Gremium. Sie stellte das Themenfeld „Das Quartier – Raum für mehr Umwelt- und Klimaschutz“ vor und lenkte damit den Blick auf Lösungen in Fragen des Energieverbrauchs, der Flächennutzung und der Mobilität innerhalb von Quartieren. Das Quartier, von den AnwohnerInnen selbst gern Veedel, Kiez oder Bezirk genannt, stellt ein Bindeglied zwischen Gebäude- und Stadt(teil)ebene dar. „Die transformative Kraft der Städte steckt in den Quartieren, als Keimzelle des urbanen Wandels“, so Messari-Becker. Die Bauexpertin empfiehlt der Bundesregierung, das Quartier als strategische Handlungs- und Umsetzungsebene zu etablieren.
Auf der Quartiersebene könnten unterschiedliche Maßnahmen des Umwelt- und Klimaschutzes im Verbund realisiert werden, die ökologische und ökonomische Skaleneffekte bringen. Die Wissenschaftlerin nennt als konkrete Beispiele Nahwärmenetze, serielle energetische Sanierung, Anlagen zur kollektiven Erzeugung erneuerbarer Energien aber auch eine gemeinschaftliche Nutzung von Flächen oder Mobilitätsangeboten. Zudem haben Quartiere eine soziale Kraft und können Mitmach- und Nachahmungseffekte unterstützen. „Quartiere bilden stets definierte Räume, in denen Kommunen ökologische Herausforderungen analysieren und bearbeiten können“, sagte Messari-Becker bei der Vorstellung des Gutachtens. „In den Handlungsfeldern Energie, flächenschonende und verkehrsvermeidende Stadtstrukturen können sich dabei Synergien ergeben.“
Die Menschen würden sich mit „ihrem Viertel“ identifizieren und deshalb eigne sich das Quartier besonders für zivilgesellschaftliches Engagement. Messari-Beecker: „Jedes Quartier ist einzigartig und komplex. Gemeinsames Handeln muss deshalb organisiert werden“. Sie empfiehlt den Aufbau von Kooperationsplattformen, die möglichst auf bestehenden Strukturen wie Quartiersmanagement basieren sollten. Aber auch der Blick über die Stadtgrenzen hinaus sei wichtig. Gerade die interkommunale Kooperation könne Synergieeffekte für Umweltschutz und Lebensqualität der Menschen erschließen.
Großes Potenzial sieht Messari-Becker auch bei der Gebäudesanierung. Bislang seien politische Maßnahmen stark auf Einzelgebäude ausgerichtet. Serielle Sanierungen, Sanierungspfade, Zielmarken für Quartiere, Quartiersansätze im Gebäudeenergiegesetz sind rechtliche und fördertechnische Baustellen. Die Spielräume für eine Eigenversorgung mit Strom und für Kooperationen wie nachbarschaftliche Versorgung, Bürgerenergiegemeinschaften und Mieterbeteiligungen sollten erweitert werden. Die energetische Bilanzierung von Quartieren helfe, Gebäudecluster zu identifizieren, die ähnliche Voraussetzungen haben. Dadurch könne die Sanierung effizienter und kostengünstiger gestaltet werden.
Neben der Energiewende sei der sparsame Umgang mit der begrenzten Ressource Fläche eine Herausforderung in städtischen Quartieren, betonte Messari-Becker. „Die Lösung liegt in intelligenten Nutzungskonzepten und der Multifunktionalität, um Flächen effektiv, gemeinwohlbezogen sowie klima- und umweltgerecht zu nutzen und kurze Alltagswege zu ermöglichen.“ So sei die Stadt der kurzen Wege ein zentrales Konzept der nachhaltigen urbanen Entwicklung. Verkehr werde vermieden, Emissionen gesenkt und Lebensqualität erhöht. Messari-Becker sieht in der nachhaltigen Stadt die dort lebenden Menschen als Träger der sozial nachhaltigen Quartiersentwicklung. Sie agieren als Nutzende, Verbraucher, Mitentscheider und Investoren gleichermaßen. Die Siegener Professorin hofft, dass das Quartier in seiner Bedeutung auch für den europäischen Umwelt- und Klimaschutz gestärkt wird.
Im seinem Gutachten behandelt der Umweltrat neben der nachhaltigen Quartiersentwicklung die Themenfelder Klimapolitik, Kreislaufwirtschaft, Gewässerschutz, Lärmschutz und städtische Mobilität. Hier sehen die WissenschaftlerInnen dringenden Handlungsbedarf.
Nicht bei allen Empfehlungen geht Messari-Becker dabei allerdings konform mit ihren Kolleginnen und Kollegen. So kritisierte sie unter anderem die pauschale Forderung nach einer Pkw-Maut in Städten, obligatorische Verkehrsentwicklungspläne für Gemeinden schon ab 50.00 Einwohner, bundesweit übergeordneten Lärmvorgaben und noch mehr Lärmverordnungen. Sie bevorzugt den CO2-Emissionshandel im Verkehrssektor, wie es das Klimaschutzgesetz für 2021 vorsieht sowie gezielte Förderung von kommunalen Mobilitäskonzepten. Messari-Becker ist für weniger Reglementierungen und dafür mehr Praxisnähe zur Durchsetzung von umweltpolitischen Maßnahmen in Städten „Weil Städte unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen abwägen müssen. Bundesweit einheitliche übergeordnete Vorgaben für Lärm oder Verkehr und noch mehr Verordnungen helfen nicht weiter. Das Primat der Optimierung einzelner Aspekte funktioniert deshalb in der Stadtplanung nicht.“ Stattdessen macht sich die Bauingenieurin stark für Vor-Ort-Lösungen, interkommunale Kooperationen und Abwägungsprozesse.